Fühlst du dich nach jeder Yoga-Stunde gut? Oder gibt es da ein Gefühlsspektrum, das manchmal sogar unangenehm sein kann? Yoga umfasst viel mehr als die bei uns im Westen so körperfokussierte Asana-Praxis. Richtungen wie Yoga Nidra, Yin Yoga, aber auch Rituale wie Jahreskreise, Mantra-Singen oder Kakaozeremonien liegen immer mehr im Trend. Dabei geht es dann nicht mehr nur um die körperlich-sportlichen Aspekte einer Praxis, sondern viel mehr um spirituelle Prozesse, die ganz schön intensiv sein können. Leider sind nicht immer alle Yoga-Lehrenden auf die komplexen psychischen und emotionalen Erfahrungen der Schüler*innen während dieser Praxen vorbereitet.
Warum Gefühle weder gut noch schlecht sind und wie wir unsere Schüler*innen besser abholen können, haben wir hier für dich zusammengefasst:
Toxic Positivity, Optimismus und Yoga
Unter toxischer Positivität wird im Allgemeinen die Unterdrückung negativer Gefühle und Gedanken im Leben verstanden, selbst wenn sie in bestimmten Lebenssituationen adäquat sind. Die Ursprünge des Begriffes sind unbekannt, doch spätestens seit 2020, also dem Beginn der Pandemie, ist er auch in Wissenschaftskreisen in aller Munde. Toxic Positivity beschreibt den Druck, der auf Individuen ausgeübt wird, dem Leben gegenüber immer positiv zu begegnen, komme was wolle. Viele Menschen praktizieren toxische Positivität mit sich selbst und anderen, ohne sich dessen im Klaren zu sein. Mit einem gesunden Optimismus durchs Leben zu gehen, heißt nämlich alle Emotionen zuzulassen, ihnen Raum zu geben und sich im Klaren zu sein, dass Gefühle, Gedanken und Lebenssituationen flüchtig sind. Gegen eine positive Grundhaltung im Leben ist also absolut nichts einzuwenden, zumal sie nachweislich für ein tendenziell längeres und gesünderes Leben sorgt. Sobald die eigene oder fremdinduzierte Positivität jedoch zur Unterdrückung von Gefühlen und Gedanken führt, sprechen wir von toxischer Positivität.
Typische toxisch-positive Reaktionen sind zum Beispiel:
„Alles wird gut.“
„Es gibt schlimmeres.“
„Sieh es doch einfach positiv.“
„Alles geschieht aus einem bestimmten Grund.“
„Ach, das ist alles Einstellungssache! Mit der richtigen Einstellung ist immer alles möglich.“
„Dich zu ärgern, Angst zu haben oder traurig zu sein bringt dir doch auch nichts.“
„Denk mal daran, was du aus dieser Situation jetzt lernen wirst!“
„Was dich nicht umbringt, macht dich nur stärker.“
Fühlst du dich jetzt ertappt? Auch uns passiert es noch ab und an, dass wir uns zu diesen Phrasen hinreisen lassen. Auf den ersten Blick klingen diese Sätze auch nicht schlecht, doch sie holen unser Gegenüber in der Regel nicht gut ab.
Wie können wir unser Gegenüber also besser abholen?
„Es ist wichtig, alles rauszulassen. Kann ich irgendetwas für dich tun, das es leichter macht?“
„Ich liebe dich in allen emotionalen Facetten.“
„Du bist so stark und deine Stärke wird dich da durchbekommen.“
„Du bist nicht allein! Es gibt ein soziales Netzwerk, das dich gerne unterstützt.“
„Es ist ok zu weinen. Das tun wir alle. Kann ich dir ein Taschentuch bringen, oder brauchst du eine Umarmung?“
„Das ist gerade eine sehr schwierige und beanspruchende Situation. Möchtest du darüber reden oder dich lieber ablenken?“
„Ich möchte gerne für dich da sein, aber ich bin gerade überfordert. Bitte sage mir, was ich tun kann.“
Der Unterschied zu den weiter oben genannten Beispielen liegt in der Empathie. In den Beispielsätzen zur toxischen Positivität gehen wir nicht wirklich auf unser Gegenüber ein, sondern fertigen sie*ihn ab. Dabei bleibt wenig Raum für die gefühlte Lebensrealität unseres Gegenübers und sie*er fühlt sich eventuell nicht verstanden. Wenn wir uns dazu bereit erklären, jemandes Schwierigkeiten anzuhören, dann sind Empathie und aktives Zuhören wichtige Werkzeuge und diese können tatsächlich geübt werden. Euer Umfeld wird es euch danken.
„You are never going to reach some magic moment, where everything in your life is perfect, you experience no negative emotions (…).” – Amanda E. White
Es ist absolut verständlich, dass wir uns am liebsten immer in einem Zustand der Glückseligkeit befinden wollen würden. Doch wie die amerikanische Psychotherapeutin White richtig feststellt, ist dies eine utopische Vorstellung. Wir können und sollen also aufhören nach diesem unrealistischen Zustand im Leben zu suchen, denn dann verpassen wir, das Leben in all seinen Facetten zu spüren – die leichten und guten Momente, aber auch die unangenehmen und schweren. Wir kategorisieren unsere Gefühle gerne in gute und schlechte, in positive und negative Emotionen. Dabei ist diese Wertung von Gefühlen nicht zweckerfüllend. Ein Gefühl ist weder gut noch schlecht – es ist einfach. Was wir damit machen und wie wir es wahrnehmen, hat allein mit unserer Weltauffassung zu tun. Wenn wir der Meinung sind, dass im Leben lediglich positiv empfundene Gefühle adäquat sind, dann werden wir uns in dem Moment, in dem wir uns „schlecht“ fühlen ziemlich viel Druck machen, um wieder zu einem positiven Lebensgefühl zurückzukommen. Und darin liegt auch schon das Problem. Solange wir Gefühle in gute und schlechte oder positive und negative einteilen, setzen wir uns bewusst oder unbewusst unter Druck.
Darum möchten wir euch an dieser Stelle einladen, einen neuen Zugang zu eurer Gefühlswelt zu entwickeln. Es gibt immer einen Grund für unsere Emotionen und sie sind für sich immer valide, weil sie uns auf etwas in uns hinweisen. Man könnte sagen, dass Gefühle unsere Wegweiser zu uns selbst sind. Wenn wir uns mit ihnen auseinandersetzen, lernen wir viel über uns selbst und das kann im Leben nur nützlich sein.
„It`s a Yoga Practice NOT a Yoga Performance. It`s NOT about how it looks on the outside, it´s about how it feels on the inside.” – @alexandriacrowyoga
Auf ihrer Instagram-Seite und in ihrem Yoga-Blog räumt die Yogalehrerin regelmäßig mit toxischen Verhaltensweisen und Strukturen in der Yogawelt auf. Der Yoga ist ein Lifestyle, dem oftmals die Tendenz zur toxischen Positivität inhärent ist. Das hat einerseits mit dem westlichen Leistungsanspruch zu tun und andererseits damit, dass Yoga auch mit Wellness in Verbindung steht.
Die Verantwortung der Yogalehrer*innen
Als Yogalehrer*in ist es wichtig, sich bewusst zu sein, dass wir keine psychosoziale Arbeit leisten – es sei denn wir haben eine solche Ausbildung. Dennoch ist Yoga eine Praxis, die viele Menschen mit explizit mentalen Schwierigkeiten anzieht und die sich gerne auch Unterstützung von ihrer*m Yogalehrer*in abholen. Es ist richtig, dass Yoga in seinen spirituellen Schriften viele Anleitungen bietet, wie das Leben lebenswerter und grundsätzlich auch glücklicher gestaltet werden kann, aber das reicht für eine psychosoziale Beratung in der Regel nicht aus. Trotzdem ist es wichtig, auch die psychischen Komponenten im Yoga nicht zu ignorieren. Es bedarf hier bewusster Rahmenbedingungen.
1. Bewusstsein:
Alleine das sich Bewusstmachen, dass Praktiken wie Jahreskreise, Yoga Nidra, Yin Yoga, Mantra-Singen und dergleichen nicht bei allen Personen positive Gefühle wecken, sondern die ganze Palette an möglichen Emotionen triggern können, ist schon wertvoll.
2. Vorbereitung der Stunde
Als nächstes kann diese Erkenntnis schon in der Planung miteinbezogen werden. Die Teilnehmenden können vorab darauf vorbereitet werden, dass die gemeinsame Praxis auch auf emotionaler Ebene stark wirken kann (Triggerwarning). Dabei ist es dann schon wichtig darauf hinzuweisen, dass alle Gefühle ihren Raum haben und wichtig sind, aber auch, dass der Rahmen intensiv darauf einzugehen nicht vorhanden ist. Eine kleine gemeinsame Abschlussreflexion über die individuelle Erfahrung der Teilnehmenden sollte dennoch eingeplant werden. Dabei kann dann auch dazu motiviert werden, unangenehme Erfahrungen mitzuteilen.
3. Alle Gefühle sind adäquat
Je weniger Angst Lehrende vor unangenehmen Gefühlen und Effekten haben, desto entspannter verläuft auch die Praxis. Das gibt den Teilnehmenden Sicherheit.
4. Empathie goes a long way
Zuletzt ist es noch ratsam, die Erfahrungen und Eindrücke der Teilnehmenden nicht abzutun. Dabei bedarf es keines großartigen wortgewandten Inputs, aber aktives Zuhören und Anerkennen der Gefühle befinden sich in einem sehr machbaren Rahmen. Darüber hinaus kann es dann schon empfehlenswert sein, die betreffende Person an professionelle psychosoziale Dienstleistungen weiter zu verweisen.
Durch gute Vorbereitung und durch die eigene Auseinandersetzung mit der Thematik, kann ein gutes Fundament für Yoga-Praktiken entstehen, die Schüler*innen emotional gut abholen. Für jene unter uns, denen diese Punkte noch zu wenig sind, gibt es auch psychologische Weiterbildungsseminare bei Claudia R. Pichl, die sich schon seit geraumer Zeit mit diesen Themen beschäftigt und Weiterbildungen explizit für Berufsgruppen wie Qui Gong, Yoga, Pilates und co. anbietet. (www.claudiapichl.at)
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